Das öffentliche Informationsinteresse kann eine identifizierende Berichterstattung über einen Verkehrsunfall mit fahrlässiger Tötung durch auf YouTube hochgeladene Videos rechtfertigen. Dem Betroffenen steht dann kein Löschungsanspruch gegen den Betreiber der Internetplattform YouTube zu, wie der 3. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Hamm (Az.: 3 U 71/13) mit Beschlüssen vom 07.08.2013 und 23.09.2013 entschieden und damit die erstinstanzliche Entscheidung des Landgerichts Münster bestätigt hat.
Folgender Sachverhalt lag der Entscheidung zugrunde:
Im November 2008 verursachte der mit diplomatischer Immunität in Russland als Lehrer arbeitende Kläger in Moskau einen Verkehrsunfall, bei dem zwei russische Studenten getötet wurden. Aufgrund des Diplomatenstatus des Klägers wurde die Tat in Russland nicht verfolgt. Der Kläger konnte ohne Sanktion russischer Behörden nach Deutschland zurückkehren. In Deutschland wurde der Kläger für diese Tat im Jahre 2009 zu einem Jahr Freiheitsstrafe zur Bewährung, einer Geldbuße von 5.000 Euro und einem einmonatigen Fahrverbot verurteilt.
Die Tat und ihre juristische Aufarbeitung waren wiederholt Gegenstand russischer Presseberichte. Unbekannte Nutzer thematisierten sie in Videos und luden diese auf die von der Beklagten betriebene Internetplattform YouTube hoch. Die Videos zeigen Berichte in russischer Spare mit deutschen Untertiteln. Dabei enthalten sie u.a. ein Foto, nennen den damaligen Namen des Klägers und eine frühere Adresse. Die vom Kläger verlangte Löschung aller Videos hat die Beklagte abgelehnt.
Der 3. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Hamm hat der Beklagten Recht gegeben und einen Löschungsanspruch des Klägers verneint.
Begründet wurde die Entscheidung wie folgt:
Durch die Berichterstattung unter namentlicher Benennung und bildlicher Darstellung werde der Kläger in seiner Beziehung zur Umwelt (Sozialsphäre) betroffen, in der er als unverantwortlicher Verkehrsteilnehmer negativ dargestellt werde. Diese Beeinträchtigung seines Persönlichkeitsrechts sei aber nicht widerrechtlich. Das folge aus einer Güter- und Interessenabwägung zwischen den Rechten und Interessen der beteiligten Parteien.
Bei einer identifizierenden Berichterstattung über Straftaten seien das Anonymitätsinteresse des Täters und sein Recht auf Resozialisierung berührt. Für den Kläger spreche insoweit, dass das Geschehen nach dem Ablauf der Bewährungszeit aus seiner strafrechtlichen Verurteilung mittlerweile über zwei Jahre abgeschlossen sei. Zulasten des Klägers sei zu berücksichtigen, dass er die Berichterstattung durch sein eigenes Verhalten hervorgerufen habe. Unstreitig habe er eine Straftat begangen. Dann müsse er neben der strafrechtlichen Sanktion hinnehmen, dass sich die Öffentlichkeit mit der Tat auseinandersetze. Insoweit sei zugunsten der Beklagten das öffentliche Informationsinteresse zu beachten. Dieses überwiege grundsätzlich bei einer aktuellen Berichterstattung. Im Fall des Klägers seien die beanstandeten YouTube-Videos spätestens Anfang 2010 auf die Internetplattform hochgeladen worden. Zu diesem Zeitpunkt sei der Fall noch aktuell gewesen. An das Strafverfahren habe sich seinerzeit ein medial beachteter Zivilprozess angeschlossen. Im Übrigen stelle die Tat kein geringes Vergehen dar, weil zwei Menschen zu Tode gekommen seien. Sie sei ein Ereignis der Zeitgeschichte, bei dem der Täter im Rahmen einer aktuellen Berichterstattung namentlich benannt werden könne.
Gegen die Rechtmäßigkeit der Berichterstattung spreche auch nicht, dass der Kläger behaupte, die Videos gäben ein unwahres Tatgeschehen wieder, weil suggeriert werde, er sei betrunken gefahren. Zwar müsse eine Berichterstattung mit unwahren Tatsachenbehauptungen nicht hingenommen werden. Im vorliegenden Fall müsse der Kläger die streitige Behauptung aber als wahr gegen sich gelten lassen, auch wenn sie nicht bewiesen sei. Die hochgeladenen Videos stammten von beliebigen Dritten und würden nicht überprüft. Im Unterschied zu Presseberichten gebe es bei den von Laien erstellten Videos kein erhöhtes Vertrauen in ihre inhaltliche Richtigkeit. Daraus folge das sog. Laienprinzip, auf das sich auch die Beklagte stützen könne. Befasse sich ein Laie in einem Video mit einer die Öffentlichkeit berührenden Angelegenheit, könne er sich hinsichtlich der mit dem Video verbreiteten Tatsachenbehauptungen auf die Wahrnehmung berechtigter Interessen berufen. Er müsse nicht beweisen, dass die Tatsachen wahr, sondern nur darlegen, dass sie sorgfältig recherchiert seien. Diesen Anforderungen sei im vorliegenden Fall genügt worden, weil die den Videos zugrunde liegende russische Presseberichterstattung von einer Trunkenheitsfahrt ausgehe und der Kläger dieser Berichterstattung auch nicht widersprochen habe.
Die Berichterstattung sei auch nicht deswegen rechtswidrig, weil sie noch im Jahre 2012 bei YouTube zu sehen sei. Mit zeitlicher Distanz zur Straftat nehme zwar das Interesse des Täters zu, mit seiner Tat nicht mehr konfrontiert zu werden. Jedoch bestehe auch ein Interesse der Öffentlichkeit, geschichtliche Ereignisse von besonderer Bedeutung recherchieren zu können. Soweit die Berichterstattung bei ihrer Veröffentlichung rechtmäßig gewesen sei, dürften die Berichte auch in Online-Archiven weiter zum Abruf bereitgehalten werden, wenn das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen nicht aufgrund der Umstände des Einzelfalls überwiege. Letzteres treffe auf den vorliegenden Fall nicht zu. Die Berichterstattung sei ausdrücklich als Altmeldung erkennbar. Der Resozialisierung des Klägers stehe sie nicht entgegen, weil nur ältere Fotografien verwandt worden seien und der Kläger bereits vor Klageerhebung seinen Namen geändert habe.
Die Entscheidung ist nicht rechtskräftig. Inzwischen liegt der Fall dem BGH vor (VI ZR 472/13).